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Verlorene Heimat

30. Juni 2014, von «Renate Petersen»

Von der Ostseeinsel Rügen nach Steinberg

Die Heimat auf Rügen

In Malkwitz, östlich von Gingst auf der größten deutschen Ostseeinsel Rügen gelegen, lag der elterliche Bauernhof, den ich als ältester Sohn erben sollte. Mein Vater, Willi Bischoff, Jahrgang 1899, hatte mehrere öffentliche Ämter inne. Mit den Machenschaften Ende der 1920er Jahre war er absolut nicht einverstanden und löste deshalb schon manchen Unmut im Bekanntenkreis aus. Aus diesem Grunde habe ich mich nie bereit erklären mögen, auch nur einen Posten in der Öffentlichkeit anzunehmen. Unsere Familie hat persönlich bis zum Kriegsende keine wirkliche Not gelitten, wenn man von dem harten Schicksalsschlag absieht, dass unsere Mutter bereits 1942 verstarb. Vater bekam nacheinander mehrere Wirtschafterinnen, sie wollten teils den Mann mit Hof haben, also geheiratet werden, aber wollten nicht gerne die vier Kinder im Alter zwischen ein und elf Jahren mit übernehmen. Aber im Februar 1944 heiratete unser Vater dann doch eine Frau aus Husby in Angeln, durch die wir dann Jahre später überhaupt nach Schleswig-Holstein und speziell nach Husby kommen konnten; denn ohne eine bestimmte Anlaufstelle gab es keinerlei Ausreiseerlaubnis.

Im Herbst 1944 kamen die ersten Flüchtlinge aus Litauen mit ihren Panjegespannen, den typischen litauischen Pferden, zu uns. Etwa 20 ausgebombte Verwandte aus Stettin hatten bereits bei uns Unterschlupf gefunden. Die Litauer zogen weiter, in die freigewordenen Quartiere überall auf Rügen kamen Ostpreußen und Hinterpommeraner, die vor den nachrückenden Russen ihre Heimat verlassen mussten (da hätte ich unter Umständen schon meine spätere Frau treffen können; denn viele Ostpreußen kamen übers Wasser zu uns nach Rügen). Bereits im April 1945 wurde innerhalb unserer Familie über die getrennte Abreise nachgedacht, damit im Falle einer missglückten Flucht mindestens eine männliche Person für den weiblichen Familienteil sorgen könnte, und die Abreise in zwei Etappen war auch als Vorsichtsmaßnahme und zur Absicherung gedacht.

Am 4.Mai 1945 zogen die Russen ohne Kampfhandlungen auf unserer Insel ein. Vom 8. Mai 1945 bis Februar 1947 war unser Vater - wohl wegen seiner Vorkriegsposten - in russische Gefangenschaft genommen worden. Ende Mai 1945 wurde die jüngste Tochter geboren, ein Russe, der extreme Ausschreitungen verhindern sollte, war sehr um die werdende Mutter besorgt. Ab 8.Mai ist die Mutter jeden Abend mit den Töchtern und allen anderen weiblichen Personen des Dorfes Malkwitz in den Kirchort Gingst gegangen, morgens kamen alle wieder zurück. Dort in der Nähe der Kommandantur war mehr Sicherheit gegeben. Lediglich wir beiden Brüder blieben nachts auf dem Betrieb.

Aus der Gefangenschaft in Ostpreußen hat sich unser Vater »selbst entlassen«, somit war er ohne die wichtigen Papiere und hielt sich die ersten vier Wochen ziemlich versteckt. Die unverheiratete Tante, Schwester vom Vater, hatte auf irgendeine Weise durch mancherlei Beziehungen dafür sorgen können, dass erstens der Hof nicht enteignet worden war und zweitens Vater wieder zu Papieren gelangt war. Das Vertrauen untereinander im Dorf war völlig dahin, es blieb schlecht, auch wieder auf Grund der verschiedenen Ämter des Vaters. In der Zeit wurde alles, aber auch alles diktiert, bestimmt, kontrolliert und nochmals kontrolliert. So zum Beispiel, welche Saat in welcher Menge anzubauen war, und vor allen Dingen, wie viele Mengen von dem Ertrag dann abzuliefern waren. Weil der elektrische Strom tagsüber zu schwach war, haben wir mehrere aufeinanderfolgende Nächte hindurch gedroschen, tagsüber die üblichen anfallenden Arbeiten verrichtet, dann wieder nachts gedroschen - keine leichte Arbeit, und ich brach total zusammen. Uns unbekannte bewaffnete Volkspolizisten kontrollierten die Arbeit beim Dreschen, um ja das vorgegebene Ablieferungssoll zu bekommen. Da sie aber mit der Dreschmaschine absolut nicht vertraut waren und sich mit deren Technik nicht auskannten, haben wir sie dennoch »betrügen« können. Wir drehten das Windgebläse so weit wie nur irgend möglich auf, damit eine nicht unerhebliche Menge Körner mit dem Kaff in die Kaffkammer fliegen konnte.So hatten wir auf diese Weise im Kaff Hafer usw. als Pferdefutter behalten. In kurzen Abständen wurden die »Vopos« ausgetauscht, um keinesfalls ein Vertrauensverhältnis aufkommen zu lassen.

Ab September 1945 wurden alle Höfe von 100 ha aufwärts im Zuge der Bodenreform enteignet und in kleinere Siedlungen umgewandelt. Von da an wurden die Besitzer der verbliebenen Höfe systematisch der Größe des Besitzes nach gezwungen, aufzugeben, weil das verlangte Ablieferungskontingent ohne die notwendigen Betriebsmittel nicht erfüllt werden konnte! Es wurde zum Beispiel als Sabotage ausgelegt, wenn die geforderte Menge nicht zeitig genug abgeliefert werden konnte, weil am betreffenden Anlieferungsort generell die Einspännerwagen den mehrspännigen Fuhrwerken vorgezogen wurden, egal, welches Fuhrwerk zuerst eingetroffen war. Wagte man sich deshalb auch nur irgendwie zu äußern, hatte man nur noch länger in der Schlange zu warten.

Allmählich stand dann für unseren Vater und für uns alle fest, nicht mehr länger dort unter diesen Bedingungen und diesen Schikanen leben zu können. Über Berlin hatten wir alle Zeit hindurch eine Nachrichtenquelle.Es wurde schon längere Zeit berichtet, dass Berlin für uns Rüganer absolut dicht gemacht werden sollte. Weihnachten 1952 hörte ich zum ersten Mal ein Gespräch meiner Eltern über die geplante Flucht. Ich wurde dann etwas später als das älteste Kind eingeweiht, dass der Entschluss zur Flucht feststand, weil der Vater nicht seelisch zugrunde gehen wollte. Mir wurde aber als gut 21jährigem Mann freigestellt, dort auf Rügen zurückzubleiben, wenn ich es wollte. Es wäre aber für mich niemals gut ausgegangen, wenn ich nicht mitgefahren wäre. Das wird mir noch heute immer wieder bei Besuchen auf Rügen oder von Rüganern, die dablieben und uns besuchen, voll bestätigt. »Du bist ja fortgegangen«, so hört man noch heute. Deshalb zog es mich auch nicht zur Feier der Goldenen Konfirmation nach Rügen zurück.

Vater verkaufte zwei seiner Pferde, um Geld zu bekommen, denn mehr als die sonst übliche Summe an Geld vom Bankkonto abzuheben, weckte bereits Misstrauen. Wie geplant, reiste die Familie Bischoff aus Malkwitz in zwei Gruppen aus. Und zwar wohlweislich an einem Wochenende, weil dann der Tagelöhner nicht auf dem Hofe anwesend war. Auch daran war gedacht worden. Eine Deck-Adresse in Berlin war schon lange vorher abgesprochen worden, sollte etwas passieren, hätten wir uns dahin wenden sollen. Nachdem die Eltern mit den beiden jüngeren Schwestern und meinem Bruder am Sonnabend per Bahn Richtung Berlin abgereist waren, ging ich ganz bewusst in die Gastwirtschaft. Dort wurde ich sofort mit dem Satz begrüßt: »Deine Eltern sind abgehauen, sind geflohen«. Ich konnte nur zur Antwort geben:»Dann wäre ich doch auch weg«. Die Eltern wurden tatsächlich aus dem Zug herausgeholt, es lagen jedoch keine ausreichenden Fluchtsverdachtsmomente vor, und so konnten sie weiterreisen. Am darauffolgenden Sonntag bestiegen dann meine älteste Schwester und ich ebenfalls den Zug Richtung Berlin, und somit hatte die Familie Willi Bischoff ihre Heimat verlassen. In unserem Zugabteil saßen mehrere Volkspolizisten, die mich sogleich zum Skatspielen aufforderten. So gelangten wir unkontrolliert nach Berlin. Wir konnten aber nicht das Schild mit dem abgesprochenen Stationsnamen entdecken, und wir wagten auch nicht, an einem verkehrten Haltepunkt auszusteigen. Vater und Bruder wollten uns abholen, waren aber in allem Gewirr und Gewühle nicht zeitig da, und so fuhren wir weiter an allen Westberliner Haltestellen vorbei bis nach Ostberlin. Im Lager trafen wir uns alle wieder. Mit bis zu 200 Personen blieben wir hier vom 23. März bis zum 1. Mai 1953. In den Messehallen wurde das Aufnahmeverfahren abgewickelt, und dort trafen sich auch immer wieder andere Familien.

Etwa fünf bis sechs Wochen dauerte diese Abwicklung gewöhnlich. Am 1. Mai 1953 wurden wir per Flugzeug von Berlin nach Hamburg gebracht. West-Berlin war ja bekanntlich eine Insel im DDR-Gebiet. Von Hamburg ging es später per Bahn nach Angeln, genau nach Husby. (Die Schreiberin, bei Husby aufgewachsen, kann sich sehr gut daran erinnern, dass alle Bekannten in und um Husby herum glücklich und dankbar waren, als sie von der geglückten Flucht der Familie Bischoff erfuhren. Durch die Familie der 2. Frau Bischoff hatten wir ja ständig von den vielen Schwierigkeiten und Drangsalen gehört - R.P.). Unser Vater arbeitete zunächst im Straßenbau und setzte zum Beispiel die Kantsteine zum Fußweg von Husby nach Gremmerup. Dieser Ort Gremmerup hatte für mich später noch eine wichtige Bedeutung, denn dorthin war meine spätere Frau Gerda aus Grieteinen in Ostpreußen geflüchtet, und hier haben wir uns kennen gelernt. Von Husby aus konnte unser Vater für seine Familie von 1955 bis 1967 eine Pachtung, einen Hof in Ruhnmark, übernehmen. Ich war zu Hause und auf verschiedenen anderen Betrieben »in Stellung«, wie es damals hieß. Wir heirateten und konnten von Ruhnmark aus den Hof der verwitweten Frau Lieschen Jürgensen in Steinberg pachten. Die ersten Jahre bewirtschafteten wir die Ländereien von Ruhnmark aus. Nachdem wir dann auch in Steinberg wohnen konnten und umgezogen waren, konnten wir den Hof auf Leibrenten-Basis übernehmen.

Den Heimatort Malkwitz gibt es nicht mehr, unser Dorf wurde um 1960 total geschleift und dem Erdboden gleichgemacht. Lediglich auf alten Landkarten ist noch »Malkwitz« zu lesen. Die Großmütter beiderseits sind kurz vor Kriegsende verstorben, so mussten sie den völligen Zusammenbruch nicht miterleben. Beide Großväter waren bereits mehrere Jahre früher gestorben. Das mütterliche Elternhaus in Klein-Capelle gehört nun wieder der Erbengemeinschaft Bischoff, es wurde neu eingedeckt, innen renoviert und modernisiert.

(Der ehemalige Rüganer Detlev Bischoff, Steinberg, erzählte seine Geschichte am 25.03.2001, aufgeschrieben von Renate Petersen.)

www.steinberg-ostsee.de

 

 

 

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